Afilio Geschichten

„Seit er gegangen ist, gibt es ein Licht weniger auf dieser Erde.“

Nicoles Vater
Bei Afilio Geschichten stellen wir Menschen vor, die selbst erlebt haben, wie wichtig das Thema Vorsorge ist. Unsere Nutzerin Nicole erzählt, wie ihr Vater 2020 verstarb und warum sie froh ist, dass er mit einer Patienten­verfügung und einer Vorsorge­vollmacht vorgesorgt hatte.
Nicoles Vater

Ein Samstag im Oktober 2020 – Nicole und ihr Vater sind wie so oft wandern. Die beiden haben einen engen Draht zueinander, verbringen viel Zeit gemeinsam. Die heute 47-Jährige lebt im Haus ihrer Eltern – sie leidet am Asperger-Syndrom und ist daher auf Unterstützung angewiesen. Ihr Vater ist immer für sie da, hat Verständnis für seine Tochter und unternimmt viel mit ihr. Damit Nicole Stress abbauen kann, gehen die beiden häufig rund um Lüdenscheid wandern. Heute gehen sie zum ersten Mal mit einer größeren Wandergruppe los – 11 Kilometer will die Truppe an diesem Tag bewältigen. Für Nicole und ihren Vater ist das keine große Sache. Beide wandern viel, der 74-jährige Senior treibt Sport, spielt Fußball und Volleyball, um sich fit zu halten. „Es war alles ganz normal. Mein Vater unterhielt sich mit den anderen Teilnehmern, wobei ich ihn immer wieder auf die Corona-Abstände hinweisen musste. Dann sind wir endlich losgelaufen und die Sonne kam auch hinter den Wolken hervor. Wir sind immer als erstes gelaufen, die Straße entlang, dann an dem Bauernhof rauf in den Wald.“ Nicole und ihr Vater sind gut trainiert und deutlich schneller unterwegs als der Rest der Gruppe – selbst als es steiler wird, halten sie ihr Tempo. Nicole schaut immer wieder nach hinten, der Rest hat es sichtlich schwer mit ihnen mitzuhalten. Sie schlägt vor eine Pause zu machen, doch ihr Vater ist voller Energie: Er möchte nicht stehenbleiben, sondern schlägt vor, einfach ein wenig langsamer zu laufen, damit die anderen Wanderer aufholen können.

„Da fing mein Vater plötzlich an zu taumeln.“

Die Wanderstrecke ist den beiden nicht unbekannt. Sie waren den Weg bereits vorher abgelaufen, wissen genau wo Steigungen kommen und wie anstrengend die Wanderung insgesamt ist. Für den fitten Rentner, der nicht nur Sport treibt, sondern auch im Garten arbeitet, viel in der Natur unterwegs ist und Straßenfeste fast im Alleingang organisiert sollte die Tour keine große Sache sein. Doch an diesem Tag ist alles anders. Sie sind bereits eine Weile unterwegs, als Nicole bemerkt, dass etwas nicht stimmt. „Vielleicht 20 Meter nach dem Haus der Bergwacht und kurz vor der Spitze des Berges fing mein Vater plötzlich an zu taumeln. Es war, als wenn jemand Kreislaufprobleme hat. Dann beugte er sich vor, ich versuchte ihn zu halten, doch er kippte über auf den Boden.“ Sie versteht im ersten Moment nicht was los ist, spricht unentwegt mit ihrem Vater, doch dieser reagiert nicht. Die Wandergruppe holt auf und alle fragen, was los ist – zwei Männer beginnen sofort mit der Herzdruckmassage. Nicole unterstützt sie. „Ich versuchte immer Pausen dazwischen zu erwischen, um ihn zu beatmen. Zwischendurch fragte ich, ob jemand den Kranken­wagen gerufen habe. Das hatten sie, aber das dauerte,“ erinnert sie sich.

„Die Zeit lief und nichts passierte.“

Bis der Kranken­wagen eintrifft, beatmet Nicole weiter, während sich die zwei Männer mit der Herzdruckmassage abwechseln. Sie redet immer wieder auf ihren Vater ein, bittet ihn, nicht seinem Bruder zu folgen, der knapp einen Monat zuvor plötzlich verstorben war. „Er hatte mich noch einmal bei diesen Worten angesehen und dann drehten sich seine Augen nach oben.“ Kurz darauf treffen die Rettungssanitäter ein und beginnen sofort ihren Vater zu intubieren. Doch es dauert lange, bis die Notärztin ihren Vater stabilisiert hat. Zwischendrin muss Nicole zahlreiche Fragen beantworten. „Die Ärztin hatte mich gefragt, welche Medikamente er einnimmt und worauf zu achten sei. Ich erzählte alles, woran ich mich erinnern konnte. Auch sein Gewicht, da er mir noch am Vortag freudig erzählt hatte, er habe abgenommen“, erinnert sie sich. Als ihr Vater in einem stabilen Zustand ist, wird er mit dem Rettungswagen ins Kranken­haus gebracht. Nicole bleibt zurück und macht sich auf den Weg nach Hause. Am Nachmittag fährt sie mit ihrer Mutter ins Kranken­haus. Die beiden hatten zuvor einen Anruf von der Notärztin bekommen – sie teilte ihnen mit, dass Nicoles Vater einen schweren Herzinfarkt erlitten hatte. Er liegt nun auf der Intensivstation.

„Sie hatten meiner Mutter erzählt, dass sie ihn ins künstliche Koma gelegt hätten. Vermutlich würde das 14 Tage so bleiben.“

Als sie am Folgetag wieder ins Kranken­haus fahren, darf Nicole nicht mit auf die Intensivstation. Nur ihre Mutter erhält Zutritt und darf ihren Mann sehen. Er liegt im künstlichen Koma und die Ärzte wollen noch einige Untersuchungen durchführen. „Dann am Montag bekamen wir einen Anruf. Wir sollten vorbeikommen, die Oberärztin wollte mit uns sprechen. Wir dachten, die Ergebnisse der Blut­untersuchung wären da, doch es kam anders“, erzählt Nicole. Die Notärztin hatte ihrem Vater ein Medikament verabreichen lassen, das bei Patienten eingesetzt wird, die krampfen. Dies, so erklärt die Oberärztin, sei ein Symptom eines beschädigten Gehirns. Der Schaden kommt zustande, wenn über einen längeren Zeitraum zu wenig Sauerstoff ins Gehirn gelangt. Nicole ist schnell klar: Ihr Vater wird vermutlich ein Pflege­fall, falls er wieder aufwachen sollte. Dass er bei dieser Aussicht keine lebenserhaltenden Maßnahmen möchte, hatte er in einer Patienten­verfügung festgelegt. Diese liegt dem Kranken­haus samt Vorsorge­vollmacht eingescannt vor. „Am Dienstag sind mein Bruder und meine Mutter ins Kranken­haus gefahren. Sie haben um zwölf Uhr die Geräte ausschalten lassen.“

„Er wäre ein schwerer Pflege­fall geworden.“

Noch immer ist es für Nicole schwer, den Verlust ihres Vaters zu verarbeiten. „Ich habe immer sehr an meinem Vater gehangen. Er hat meine Probleme besser verstanden“, sagt sie. Kurz nach seinem Tod fragt sie sich, ob sie ihn zu wenig beatmet hat oder Anzeichen übersehen hat, die es vorher schon gab. „Ich habe aber später erfahren, dass es sehr wahrscheinlich schon im Gehirn eine Sauerstoffunterversorgung gab, als er zusammenbrach. Denn die Verkalkungen sind nicht nur im Herzen, sondern auch im Gehirn.“ Auch ihre Mutter hat mit dem Verlust und der Frage zu kämpfen, ob sie alles richtig gemacht hat. Letztendlich, so sagt Nicole, sei es aber gut, dass es die Möglichkeit gebe, die Geräte in einem solchen Fall abstellen zu lassen. „Für jedes Haustier würde man diesen Freundschaftsdienst ja auch machen, warum nicht für ein Familienmitglied?“ Ihr ist klar, was für ein Leben ihr Vater geführt hätte, wenn sie sich für die lebenserhaltenden Maßnahmen entschieden hätte. „Wenn überhaupt noch etwas im Gehirn funktionierte, dann nicht mehr viel. Er hätte nur weiter an Maschinen existieren können, die seine ganzen Funktionen übernehmen.“ Zum Glück hatte ihr Vater in seiner Patienten­verfügung genau festgelegt, dass er so nicht leben und in diesem Fall keine lebenserhaltenden Maßnahmen möchte. So konnte er sein Selbstbestimmungsrecht wahrnehmen, ohne sich selbst gegenüber Ärzten und seiner Familie äußern zu können. Für Nicole ist es zwar eine Erleichterung, zu wissen, dass ihr Vater nicht leiden musste, der Verlust ist aber nur schwer zu verarbeiten. „Er fehlt mir jetzt sehr. Man kann sagen, seit er gegangen ist, gibt es ein Licht weniger auf dieser Erde.“