Neues Begutachtungs­assessment (NBA)

von Christina Horst
14.07.2020 (aktualisiert: 25.02.2021)
Das Wichtigste in Kürze:
  • Das NBA ist ein Begutachtungsinstrument zur Feststellung von Pflege­bedürftigkeit. Es wurde Anfang 2017 im Zuge der Pflege­reform durch das Zweite Pflege­stärkungsgesetz (PSG II) eingeführt, zusammen mit einem neuen Pflege­bedürftigkeitsbegriff und den fünf Pflege­graden.
  • Der Gutachter des medizinischen Dienstes der GKV oder PKV ermittelt das Ausmaß, in dem die pflegebedürftige Person auf Hilfe angewiesen ist. Aus der Begutachtung ergibt sich, ob der Betroffene einen Pflege­grad erhält und wenn ja, welchen.

Was ist das Neue Begutachtungs­assessment?

Das Neue Begutachtungs­assessment (NBA) ist ein Instrument zur Feststellung von Pflege­bedürftigkeit und dient der Einstufung in einen der fünf Pflege­grade bzw. einer Höherstufung bei bereits anerkannter Pflege­bedürftigkeit. Somit ist das Neue Begutachtungs­assessment für Pflege­bedürftige notwendig, um Leistungen der Pflege­kasse zu erhalten, z. B. Pflege­geld, Pflege­sachleistungen oder einen Zuschuss zu Pflege­heim-Kosten. Die Einführung des Neuen Begutachtungs­assessments und der fünf Pflege­grade zum 1. Januar 2017 war Teil einer umfangreichen Reform der gesetzlichen Pflege­versicherung. Kernpunkt war die Einführung des neuen Pflege­bedürftigkeitsbegriffs: Kritiker hatten vor der Reform immer wieder bemängelt, dass sich das zu eng gefasste Verständnis von Pflege­bedürftigkeit negativ auf das gesamte Pflege­system auswirke.

Heute ist Pflege­bedürftigkeit im Elften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) wie folgt definiert:

„Pflege­bedürftig im Sinne dieses Buches sind Personen, die gesundheitlich bedingte Beeinträch­tigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten aufweisen und deshalb der Hilfe durch andere bedürfen. Es muss sich um Personen handeln, die körperliche, kognitive oder psychische Beeinträch­tigungen oder gesundheitlich bedingte Belastungen oder Anforderungen nicht selbständig kompensieren oder bewältigen können. Die Pflege­bedürftigkeit muss auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate, und mit mindestens der in § 15 festgelegten Schwere bestehen.“ (§ 14 SGB XI)

Maßgeblich sind laut § 14 SGB XI dabei sechs Bereiche, die im NBA durch gleichnamige Module repräsentiert sind. Bei der Ermittlung des Pflege­grads werden die Module unterschiedlich gewichtet.

Modul

Gewichtung

  1. Mobilität

10 Prozent

  1. Kognitive und kommunikative Fähigkeiten

15 Prozent zusammen mit 3.

  1. Verhaltensweisen und psychische Problemlagen

15 Prozent zusammen mit 2.

  1. Selbstversorgung

40 Prozent

  1. Bewältigung von und selbständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen

20 Prozent

  1. Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte

15 Prozent

Bei gesetzlich Versicherten führt der Medizinische Dienst der Kranken­versicherung (MDK) das Neue Begutachtungs­assessment im Rahmen einer persönlichen Pflege­begutachtung durch, bei Privatversicherten ist es der medizinische Dienst der Privaten Kranken­versicherung (MEDICPROOF). Voraussetzung ist, dass der Betroffene zuvor einen Pflege­grad beantragt hat. Der Gutachter prüft, wie es um die Fähigkeiten des Antragstellers in den sechs genannten Bereichen bestellt ist und inwieweit er auf Hilfe angewiesen ist. Je nach der Schwere der Beeinträch­tigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten vergibt der Gutachter für die einzelnen Kriterien jedes Moduls Punkte, die anhand der in § 15 SGB XI vorgegebenen Bewertungssystematik addiert und gewichtet werden. Die Gesamtpunktzahl entscheidet darüber, ob der Betroffene Pflege­grad 1, Pflege­grad 2, Pflege­grad 3, Pflege­grad 4 oder Pflege­grad 5 erhält oder ob der Antrag abgelehnt wird.

Der neue Pflege­bedürftigkeitsbegriff: Paradigmenwechsel in der Pflege

Seit der Einführung der gesetzlichen Pflege­versicherung im Jahr 1995 wurde der im Sozialgesetzbuch (SGB) verankerte Pflege­bedürftigkeitsbegriff, der Grundlage für die Einstufung in die Pflege­stufen war, immer wieder kritisiert. Pflege­bedürftige, pflegende Angehörige, Verbände und Experten bemängelten, dass er sich zu sehr an den Defiziten der pflegebedürftigen Person orientiere, kognitive und psychische Beeinträch­tigungen der Betroffenen nicht ausreichend widerspiegele und die individuelle Lebenssituation nicht ausreichend berücksichtige. Insbesondere Menschen mit eingeschränkter Alltagskompetenz, z. B. bei Demenz, sahen Kritiker dadurch benachteiligt. Der zu eng gefasste Pflege­bedürftigkeitsbegriff sorgte dafür, dass das System Pflege­versicherung insbesondere bei Pflege­bedürftigen und ihren Angehörigen auf geringe Akzeptanz stieß.

Auf die Missstände in der Pflege reagierte der Gesetzgeber mit einer Reform des Pflege­rechts – insbesondere durch das Zweite Pflege­stärkungsgesetz (PSG II), das zum 1. Januar 2016 in Kraft trat. Kernpunkt war die Einführung eines neuen Pflege­bedürftigkeitsbegriffs zum 1. Januar 2017, begleitet vom Neuen Begutachtungs­assessment (NBA), das entsprechende Bewertungskriterien für die Einstufung in die ebenfalls neu eingeführten Pflege­grade enthält. Der neue Pflege­bedürftigkeitsbegriff, das dazugehörige Prüfverfahren und die Pflege­grade sollten vor allem dazu beitragen,

  • die Selbstständigkeit und Teilhabe von Pflege­bedürftigen zu erhalten und zu stärken und den Blick auf ihre Ressourcen und Potenziale zu lenken,
  • körperlich, kognitiv und psychisch beeinträchtigten Menschen gleichberechtigt Zugang zu Pflege­leistungen zu verschaffen und
  • eine Pflege zu ermöglichen, die sich an den individuellen Bedürfnissen der Betroffenen orientiert.

Demenzerkrankungen und sonstige Einschränkungen der Alltagskompetenz werden nun nicht mehr gesondert erfasst, sondern sind im Neuen Begutachtungs­assessment bereits berücksichtigt. Zudem wird verstärkt auf Prävention und Rehabilitation gesetzt, um Pflege­bedürftigkeit zu verhindern oder hinauszuzögern.

Neues Begutachtungs­assessment: Die sechs Module im Detail

Gutachterin des medizinischen Dienstes und Pflegebedürftiger beim Neuen Begutachtungsassessment
Pflege­begutachtung durch MDK oder MEDICPROOF: Auf Grundlage des Neuen Begutachtungs­assessments erhalten Antragsteller ggf. einen Pflege­grad.

Das Neue Begutachtungsinstrument zur Feststellung von Pflege­bedürftigkeit enthält sechs gewichtete und in einzelne Kriterien gegliederte Module, die ausschlaggebend für die Ermittlung des Pflege­grads sind. Darüber hinaus bewerten die medizinischen Dienste bei der Pflege­begutachtung noch zwei weitere Bereiche (Außerhäusliche Aktivitäten und Haushaltsführung), die jedoch nicht in die Berechnung des Pflege­grades einfließen, sondern lediglich der besseren Versorgungsplanung dienen: Die beiden Zusatzmodule erfassen, inwieweit der Pflege­bedürftige bei alltäglichen Erledigungen in seiner Wohnung und außer Haus Hilfe benötigt.

Die sechs Module des NBA

  1. Mobilität, z. B.
    • Positionswechsel im Bett
    • Halten einer stabilen Sitzposition
    • Umsetzen
    • Fortbewegen innerhalb des Wohnbereichs
  2. Kognitive und kommunikative Fähigkeiten, z. B.
    • Erkennen von Personen aus dem näheren Umfeld
    • örtliche und zeitliche Orientierung
    • Erinnern an Ereignisse oder Beobachtungen
    • Treffen von Entscheidungen
    • Erkennen von Risiken und Gefahren
    • Mitteilen von elementaren Bedürfnissen
    • Verstehen von Aufforderungen
  3. Verhaltensweisen und psychische Problemlagen, z. B.
    • motorische Verhaltensauffälligkeiten
    • verbale Aggression
    • sozial inadäquate Verhaltensweisen
    • selbstschädigendes Verhalten
    • Aggression gegenüber anderen Personen
    • Abwehr pflegerischer Maßnahmen und Unterstützung
    • Wahnvorstellungen
    • Depression und Antriebslosigkeit
  4. Selbstversorgung
    • Waschen, Duschen, Baden
    • Körperpflege
    • An- und Auskleiden
    • Mundgerechtes Zubereiten von Nahrung und Eingießen von Getränken
    • Essen und Trinken
    • Toilettengang
    • Umgang mit Harn- oder Stuhlinkontinenz
    • Umgang mit künstlicher Ernährung
  5. Bewältigung von und selbständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen, z. B.
    • Medikamente, Injektionen, intravenöse Zugänge, Sauerstoffgabe etc.
    • Verbandswechsel und Wundversorgung, Versorgung mit Stoma, Katheterisierung
    • Arztbesuche, Besuche medizinischer und oder therapeutischer Einrichtungen
    • Einhalten einer Diät oder anderer therapie- bzw. krankheitsbedingter Verhaltensvorschriften
  6. Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte, z. B.
    • Gestaltung des Tagesablaufs
    • Anpassen an Veränderungen
    • Selbstbeschäftigung
    • in die Zukunft gerichtete Planungen
    • Interaktion mit Personen des direkten Umfelds
    • Kontaktpflege mit weiteren Personen

Zusatzmodule

Außerhäusliche Aktivitäten, z. B.

  • Bewegen außerhalb der Wohnung oder Einrichtung
  • Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel
  • Mitfahren im Auto
  • Teilnahme an Veranstaltungen oder Aktivitäten
  • Besuch eines Arbeitsplatzes, einer Werkstatt für behinderte Menschen oder einer Betreuungseinrichtung

Haushaltsführung, z. B.

  • Erledigung von Einkäufen
  • Zubereitung einfacher Mahlzeiten
  • Aufräumen und Reinigen der Wohnung
  • Umgang mit Behörden, finanziellen Angelegenheiten etc.

Kein Pflege­grad nach NBA: Widerspruch einlegen

Mitunter ergibt das NBA-Gutachten von MDK oder MEDICPROOF, dass der Antragsteller noch einen ausreichend hohen Grad der Selbstständigkeit aufweist, sodass er nicht in Pflege­grad 1 eingestuft wird: Der Antrag wird abgelehnt. Eine Regelung wie die Pflege­stufe 0 gibt es im neuen System nicht mehr, daher haben Betroffene in diesem Fall keinerlei Anspruch auf Pflege­leistungen. Es besteht die Möglichkeit, Widerspruch einzulegen. Dieser richtet sich zwar formal gegen den Bescheid der Pflege­kasse, inhaltlich aber gegen das Gutachten, das im Zuge des Neuen Begutachtungs­assessments erstellt wurde. Der Widerspruch muss detailliert begründet werden und sich dabei ausdrücklich auf das vorliegende Pflege­gutachten beziehen. In der Regel veranlasst die Pflege­kasse dann ein Zweitgutachten. Bringt auch dieses nicht das gewünschte Ergebnis, bleibt Betroffenen noch die Möglichkeit einer Klage beim Sozialgericht.

Grundsätzlich ist es empfehlenswert, schon beim ersten Termin mit dem Gutachter optimal vorbereitet zu sein. Auch wenn der Pflege­bedarf anders als bei den Pflege­stufen nicht mehr minutengenau erfasst werden muss, hilft z. B. ein Pflege­tagebuch, den Pflege­bedarf genau zu dokumentieren. Auch ist es sinnvoll, vorab eine Beratung in Anspruch zu nehmen: Bei ihrer Pflege­kasse erhalten Antragsteller Kontakte zu Beratungsstellen.

Tipp: Im Afilio-Ratgeber finden Sie Informationen dazu, wie Sie sich bestmöglich auf die MDK-Begutachtung vorbereiten.

Quellen

Christina Horst

Christina Horst war bis Januar 2021 Content Managerin bei Afilio und schrieb vor allem über Vorsorge­themen wie die Patienten­verfügung und die Vorsorge­vollmacht. Zuvor war sie als Online-Redakteurin und Lektorin in Unternehmen und Agenturen sowie als freie Journalistin tätig.

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